Gastkolumne von Dr. Werner Vogels, CTO von Amazon Die Industrialisierung der digitalen Welt

Autor / Redakteur: Dr. Werner Vogels / Florian Karlstetter |

Aus Daten Mehrwert zu generieren ist das Geschäft der Zukunft. Erkenntnisse aus der Fertigung physischer Güter helfen, die Wertschöpfung professionell zu organisieren.

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Dr. Werner Vogels, CTO von Amazon und Vordenker des Unternehmens.
Dr. Werner Vogels, CTO von Amazon und Vordenker des Unternehmens.
(Bild: (c) 2014 sanderbaks.com / Amazon)

Vierzehn Jahre ist es her, dass der US-Publizist Nicolas Carr eine provokante These in den Raum stellte: „IT doesn’t matter“ verkündete er 2003 in der Harvard Business Review, habe also ihre strategische Bedeutung verloren. Damals entfiel auf den Bereich IT in vielen Unternehmen mehr als die Hälfte der Gesamtinvestitionen, ohne dabei die tatsächlichen Bedarfe zu berücksichtigen und zu differenzieren. Tools seien jedem Unternehmen frei zugänglich und würden so den Wettbewerbsvorteil durch IT untergraben, so die Argumentation. Daher sei es sinnvoller, Investitionen in strategisch relevante Ressourcen zu lenken. Viele Unternehmen sahen IT-Aktivitäten in der Folge nur noch als Randgeschäft und lagerten sie konsequent aus.

Das digitale Zeitalter ist da

Heute ist die Situation eine ganz andere: In Zeiten der globalen Digitalisierung gibt es unzählige Beispiele für die wesentliche Bedeutung der IT. Ob Cloud-Dienste, das Internet der Dinge oder Künstliche Intelligenz – IT ist nicht wegzudenken und stellt selbst eine wichtige Triebfeder für das Geschäft dar. Dadurch ändert sich auch die Art und Weise, wie Unternehmen ihren Kunden Produkte und Services anbieten. In der industriellen Fertigung müssen beispielsweise Prototypen nicht mehr tatsächlich hergestellt werden. Die Entwickler arbeiten stattdessen mit Simulationen, die sie von überall auf der Welt auf ihre Eigenschaften hin überprüfen können.

Auch das deutsche Unternehmen SimScale macht sich diese Entwicklung zunutze: Die Gründer hatten beobachtet, dass Produktdesigner in vielen Unternehmen sehr isoliert und ohne Verbindung zum Rest der Fertigung arbeiten. Ihre Lösung war die Einführung der SimScale-Plattform. Über einen regulären Webbrowser vereint die Plattform die Funktionalitäten von Simulationen, Daten und Menschen an einem Ort. Dadurch werden Designer in den Fertigungsprozess integriert und Produkte können schneller und besser entwickelt werden.

Für viele Unternehmen bekommen außerdem cloudbasierte Services eine immer größere Bedeutung, weil sie Mehrwert bringen. So entwickelte der Reinigungshersteller Kärcher für sein Flottenmanagement die Lösung „Kärcher Fleet“. Über die Cloud kann Kärcher direkt auf Produktdaten wie Wartungs- und Ladezustand, aber auch auf Einsatzzeiten und Standorte der Geräte zugreifen. Das bringt Vorteile für Kunden und den Hersteller. Autorisierte Nutzer können die Daten einsehen, ihre Bestände so ortsübergreifend verwalten und den Wartungsprozess deutlich effizienter machen. Kärcher wiederum bekommt Einblick in das tatsächliche Nutzungsverhalten der Kunden und kann über Abo-Modelle für sein Analyseportal neue Erlöse generieren.

Der Siegeszug datenbasierter Geschäftsmodelle

In vielen Bereichen unterstützt die verwendete Software nicht mehr nur bestehende Geschäftsprozesse, sondern ist selbst ein zentraler Bestandteil. Im Rahmen von integrierten Plattformen etwa regeln IT-Anwendungen alle Aktivitäten von der Marktanalyse über die Produktion bis hin zur Logistik. Digitale Geschäftsmodelle basieren auf einer IT, die eine eigene wertschöpfende Rolle übernimmt. Das lässt sich zum Beispiel im Vertrieb beobachten, wenn Mitarbeiter über Online-Shops oder mobile Apps Kontakt zu ihren Kunden aufnehmen.

Und auch Marketing-Spezialisten haben erkannt, dass Big Data und künstliche Intelligenz es erleichtern, Kundenbedürfnisse zu antizipieren. So setzt etwa die traditionsreiche Modehauskette Breuninger auf eine selbstentwickelte E-Commerce-Plattform in der AWS Cloud. Für die Software-Entwicklung verwendet das Unternehmen moderne Templates wie Self-Contained Systems (SCS). Der Vorteil: agile Teams können die Entwicklung neuer Software beschleunigen und Features schneller testen. Dabei arbeiten sie autonom nach dem Prinzip „You build it, you run it“: Konzeption und produktiver Betrieb der Software liegen also in einer Hand. Diese Struktur sorgt zugleich dafür, dass schon bei der Entwicklung neuer Anwendungen deren spätere Handhabung mitgedacht wird.

Daten-Champions dominieren den Markt

Während traditionelle Geschäftsmodelle auf physische Produkte und Assets setzten, rückt nun die digitale Transformation Daten ins Zentrum der Wertschöpfung. Ein Blick auf die Entwicklung des S&P 500 Index bestätigt diesen Trend: Noch 1992 standen Unternehmen an der Spitze, die physische Dinge produzierten oder vertrieben (wie Pharmakonzerne oder Handelsunternehmen). Heute haben Technologieentwickler (aus dem Bereich Medizintechnik und Software) und Plattformbetreiber (Social Media Enabler, Kreditkartenunternehmen) die traditionellen Spitzenreiter verdrängt. Und auch beim Handel selbst trägt das Geschäft mit Daten mittlerweile mehr zum globalen Wachstum bei als Gütern und Waren.

Für Unternehmen im digitalen Zeitalter ist die strategische Bedeutung von IT also größer als je zuvor. Um sich digital weiterzuentwickeln ist es unumgänglich, sich auch darüber Gedanken zu machen, welche Infrastruktur, Software und Algorithmen ein Unternehmen benötigt. Diese neue Bedeutung von Daten hat für Unternehmen klare Folgen: Sie müssen lernen, aus Ihnen Mehrwerte zu generieren, indem sie eigene Daten mit externen Datenquellen kombinieren und moderne, automatisierte Analyseprozesse verwenden. Das geht nicht ohne Software- und IT-Services, die über Programmierschnittstellen bereitgestellt werden.

Als digitaler Akteur erfolgreich

Die Voraussetzung dafür, als digitaler Akteur innovativ und erfolgreich zu sein, sind also bessere Software-Lösungen. Unternehmen müssen die „Produktion“ von Daten so aufbauen, dass dadurch ein Wettbewerbsvorteil entsteht. Sie müssen Mechanismen finden, die mit der richtigen Soft- und Hardware eine Massenverarbeitung von Daten möglich machen. Diese Mechanismen sollten schlank, lückenlos und effektiv sein. Zugleich dürfen Qualitätsanforderungen darunter aber keinesfalls leiden. Die Herausforderungen sind also die gleichen, die sich Unternehmen im Zuge der Industrialisierung schon für die Herstellung physischer Güter stellten.

Die damals gewonnenen Erkenntnisse über eine schlanke, qualitativ hochwertige Massenproduktion müssen nun auf die IT übertragen werden – das Ziel ist also eine Industrialisierung der Software-Entwicklung. Ideen aus der Lean Production, Kanban, Kaizen oder Total Quality Management scheinen dafür besonders geeignet. Vorreiter wie Toyota richteten in den 80er-Jahren ihren gesamten Produktionsprozess nach diesen Prinzipien aus und revolutionierten ihn dadurch. Damit die Revolution auch für die Datenproduktion gelingt, müssen jedoch die IT-technischen und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden. Das ist eine der größten Herausforderungen, denen sich Unternehmen im digitalen Zeitalter gegenübersehen.

Das Unternehmen als Datenfabrik

Es gilt also, das Erfolgsmodell der Industrialisierung auf die IT zu übertragen. In einer digitalisierten Welt ist es wichtig, datenbasierte Prozesse auf den Weg zu bringen und kontinuierlich zu verbessern. Neue Ideen weiterzuentwickeln und auszuprobieren ist das Gebot der Stunde und dieser Prozess sollte möglichst reibungslos von statten gehen. Man kann sich jedes IT-Projekt als eine Idee vorstellen, die eine Datenfabrik durchlaufen muss: eine vollausgestattete Produktionsstätte mit einheitlichen Prozessen und einfacher Instandhaltung. Am Ende dieser Produktionskette stehen hochwertige Dienste oder Algorithmen zur Unterstützung digitaler Geschäftsmodelle.

Was digitale Unternehmen voneinander unterscheidet, sind ihre Ideen, Daten, und Kundenbeziehungen. Im Kampf um die Vorherrschaft ist daher Schnelligkeit gefragt. Für ein funktionierendes digitales Geschäftsmodell muss vor allem die Trennung zwischen Entwicklung und operativem Geschäft überwunden werden. Denn beides, die Leistungsfähigkeit des Bereichs Software-Entwicklung, und die Relevanz von Lösungen für das operative Geschäft, sind entscheidend über Erfolg oder Misserfolg einer Idee. Ein Beispiel dafür ist das Unternehmen Autoscout24, das dank neuer IT-Lösungen heute sehr agil agieren kann. Mittlerweile 15 autonome und interdisziplinäre Teams testen und erkunden kontinuierlich neu entwickelte Dienste und Lösungen. Das Hauptziel ist es dabei, die Experimente schnell über verschiedenste Architekturen zu iterieren, Services zu kombinieren und unterschiedliche Ansätze miteinander zu vergleichen.

Um dieses Maß an Agilität zu erreichen, brauchen Unternehmen eine „Ideengenerierungsmaschine“. Gerade deutsche Unternehmen sind meist sehr kompetent im Bereich der industriellen Fertigung – es ist für sie also naheliegend, die dort geltenden Grundsätze des Qualitätsmanagements auch auf die Erstellung von Software zu übertragen. Wo immer möglich sollten sie ihr Wissen über das Erfolgsrezept der industriellen Fertigung auch auf die IT anwenden.

Eine große Hürde besteht in vielen Unternehmen darin, dass das interne IT-Knowhow mit den rasanten technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahre nicht Schritt halten konnte. Beim Onlinekauf etwa können Kunden unmittelbar Feedback geben, der Einsatz von Big Data macht Echtzeit-Analysen möglich und über die Cloud werden fast täglich Software-Updates generiert. Prozesse und Organisation der eigenen IT konnten darauf oft nicht schnell genug reagieren. Die Folge ist eine paradoxe Situation: Fachabteilungen sollen mit Strukturen von gestern die Kundenanforderungen von morgen erfüllen. Langfristige Beschaffungszyklen in der IT verhindern, das innovative Produkte und Services schnell auf den Markt kommen.

Dieser Zustand verleitet manches Unternehmen dazu, auf eine Art „Schatten-IT“ auszuweichen: Die eigene IT-Abteilung wird möglichst wenig involviert, stattdessen werden Aktivitäten in die Cloud ausgelagert. Diese bietet eine Vielzahl von mächtigen IT-Bausteinen und einfach zu nutzenden APIs, die früher nur durch aufwändige Software und Infrastruktur bereitgestellt werden konnten. Eine Verbesserung ist diese dezentralisierte Lösung aber nicht: Die Komplexität des Gesamtsystems erhöht sich, und dadurch sinkt die Effizienz. Um dieses Muster zu durchbrechen müssen Development und Operations in möglichst vielen Projekten simultan zusammenarbeiten, nicht sequenziell hintereinander. Diese Kooperation zwischen Development und Operations beschreibt der IT-Guru Gene Kim mit dem Stichwort „DevOps“.

Platz frei für den Kundennutzen

Kim beschreibt den optimalen Ablauf so: die gesamte Organisation wird vom Kundennutzen aus gedacht, der Fluss von Projekten soll reibungslos sein und ständig optimiert werden. Mögliche Hürden, die dem Kundennutzen im Weg stehen, werden schnell identifiziert und beseitigt. Ein erster wichtiger Schritt ist dabei, Teams grundsätzlich interdisziplinär und funktionsübergreifend aufzustellen. Damit sie möglichst agil bleiben, dürfen Arbeitsgruppen außerdem nicht zu groß werden. Amazon etwa verwendet hierzu den „Pizza-Test“: Reichen zwei (große!) Pizzen nicht, um das gesamte Team satt zu bekommen, ist die maximale Größe überschritten. Durch die Begrenzung sind Übergaben seltener nötig, die Eigenverantwortung der Teams erhöht sich und sie können dem Kunden Software schneller bereitstellen.

Organisiertes Feedback

Unternehmen müssen sicherstellen, dass Kundenfeedback so früh wie möglich in den Daten-„Produktionsprozess“ einfließt und auch in Folgeprojekten berücksichtigt wird. Um unendliche Feedbackschleifen zu verhindern, sollte dieser Prozess schlank organisiert sein. Auf keinen Fall darf das Einholen von Feedback interner und externen Stakeholder den Entwicklungsprozess verlangsamen oder hemmen.

Kontrolliertes Risiko

Jeff Bezos bringt seine Einstellung zum Thema Innovation so auf den Punkt: „Gute Absichten allein reichen nicht, man braucht gute Mechanismen, damit etwas geschieht.” Damit das gelingt braucht man eine Unternehmenskultur, die Mitarbeiter ermutigt, zu experimentieren. Jedes Mal sollte man sich dabei ein bisschen weiter vorwagen als zuvor. Zugleich ist es aber absolut notwendig, die Ergebnisse dieser Experimente zu dokumentieren und den Teams diese Daten bereitzustellen. Auch eine gewisse Absicherung ist essentiell: Wagt man sich mal zu weit vor und etwas geht schief – eine Lösung kommt etwa gar nicht beim Kunden an – muss es klar definierte Mechanismen geben, die nun greifen.

Die digitale Revolution im eigenen Unternehmen nicht nur anzustoßen, sondern auch am Laufen zu halten ist kein leichtes Unterfangen. Wie es funktionieren kann zeigt zum Bespiel das Unternehmen P3: Die Kunden sind Mobilfunkanbieter, denen P3 Zugang zu Daten über die Qualität von Mobilfunknetzen verschafft – weltweit und unabhängig von Netzbetreibern und Anbietern. Aus diesen Informationen über Feldstärken, abgebrochene Verbindungen oder den Datendurchsatz leiten die Kunden dann Maßnahmen ab, etwa wo Netze ausgebaut werden müssen oder wie Angebote zu einer effizienten Nutzung der vorhandenen Kapazitäten aussehen könnten.

Mithilfe der DevOps-Tools definiert P3 einen automatisierten Prozess, der die benötigte Rechen-Infrastruktur in der AWS-Cloud umsetzt und projektspezifische Softwarepakete auf Knopfdruck zum Einsatz bringt. Entwickler, Businessverantwortliche oder Datenexperten können die Definition dieser Prozesse zudem jederzeit anpassen. So können zu zum Beispiel neue Regionen erschließen, Analysesoftware hinzufügen, oder neue AWS-Dienste implementieren. Dadurch wird P3 so weit entlastet, dass sich das Unternehmen ganz auf seine eigene Software, die eigentliche Kernkompetenz, konzentrieren kann. Die frei gewordenen Ressourcen können Datenexperten nutzen, um die weltweit gesammelten Informationen in Echtzeit zu analysieren und ihren Kunden zur Verfügung zu stellen.

Durch die Weiterentwicklung der Cloud stehen der IT auf der technischen Seite ganz neue Möglichkeiten und damit auch neue Chancen zur Verfügung. Klar ist aber auch: die Anforderungen, um diese Möglichkeiten nutzen zu können, wachsen ebenfalls. Denn Technologien verändern sich schneller als Menschen, und einzelne Menschen schneller als ganze Organisationen. Unternehmen müssen diesen Herausforderungen mit einer klaren Strategie begegnen. Die Bereitschaft und Fähigkeit zu notwendigen Veränderungen ist eine wichtige Voraussetzung, um in der digitalen Welt die Nase vorn zu haben.

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