Großreinemachen zum Jahresende SAP-Systeme und der Brexit
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Ganz gleich, ob harter oder weicher Brexit: Großbritannien ist ab 1. Januar 2021 nicht mehr Mitglied der Europäischen Union und damit ein Drittland. Das erfordert vielfältige Anpassungen in den SAP-Systemen. Aber wie, wenn immer noch kein verbindliches Regelwerk besteht?

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union am 1. Januar 2021 führt zu Nebenwirkungen, die vielen unmittelbar betroffenen Unternehmen noch nicht vollends bewusst sind. Einige der gut versteckten Brexit-Fallgruben lauern in den SAP-Systemen derer, die Handel mit Großbritannien betreiben.
Wer Waren oder Dienstleistungen von Partnern aus dem Vereinigten Königreich bezieht oder dorthin verkauft, hat es künftig mit Geschäftspartnern aus einem Drittland zu tun. Dieser neue Status Großbritanniens erfordert zahlreiche Umstellungen in den unterschiedlichsten SAP-Subsystemen, um etwa Prozesse und Finanzen an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen.
Systemanpassungen während des Jahresendspurts?
SAP und Brexit sind jeweils für sich gesehen schon hochkomplex. Nun stehen viele Unternehmen bis zum 1. Januar 2021 vor der Aufgabe, sich mit beidem gleichzeitig zu befassen.
Eine Herausforderung dabei ist, dass heute die genauen Modalitäten, unter denen Großbritannien die EU verlässt, noch gar nicht feststehen. Die IT-Abteilungen können also Veränderungen zwar heute schon vorbereiten (wenn sie wissen, was zu tun ist), haben aber erst Gelegenheit, sie konkret umzusetzen, wenn das Handelsabkommen zwischen EU und GB in trockenen Tüchern ist, so es denn überhaupt eines geben wird.
Eine zweite Herausforderung hat damit zu tun, dass die zahlreichen vom Brexit betroffenen SAP-Module nicht nur allesamt angepasst werden, sondern Unternehmen auch die Wechselwirkungen der Bereiche untereinander berücksichtigen müssen. Wenn SAP das zentrale Nervensystem der meisten Unternehmen ist, so reicht die Fehlfunktion eines Moduls aus, um den gesamten Organismus durcheinanderzubringen. Angesichts der verbleibenden Zeit bis zum Jahreswechsel ist all dies schon herausfordernd genug. Aber was ist mit dem Weihnachtsgeschäft? Mit dem Jahresabschluss? Mit der üblichen Belastung, unter der viele Unternehmen zum Jahresende ohnehin stehen?
Wer noch nicht mit der Brexit-konformen Anpassung seiner SAP-Systeme begonnen hat, sollte jetzt schnell starten.
Lieferanten und Kunden unter der Lupe
Zunächst einmal sollten sich Unternehmen genau anschauen, mit wem und in welchem Maße sie Handel mit Unternehmen aus GB treiben. Bisher waren diese Geschäfte im EU-Binnenmarkt ganz unproblematisch möglich, und ein Lieferant in Manchester hatte den gleichen Status wie einer in Meppen, Mailand oder Madrid.
Künftig gehört dieser Lieferant jedoch zu einem Drittstaat. Steuern verändern sich, es können Zölle fällig werden, Aus- und Einfuhrmodalitäten führen zu verlängerten Lieferzeiten – was bei wichtigen Komponenten die gesamte Wertschöpfungskette bremsen kann.
Identifizieren der betroffenen SAP-Module
Im nächsten Schritt geht es darum zu dokumentieren, welche SAP-Module angepasst werden müssen, und welche Veränderungen konkret erforderlich sind, um die im ersten Schritt identifizierten Kunden und Lieferanten sauber im System zu haben. Es sind vor allem sechs SAP-Module, die dafür infrage kommen – und jeweils eine ganze Reihe notwendiger Modifikationen, von denen nachfolgend einige exemplarisch dargestellt sind.
1. „SAP CRM“ für das Kunden-Management: Hier sind zunächst einmal Veränderungen an den Kundenstammdaten wichtig. Kunden in GB gehören ab 1. Januar 2021 zu einem Drittland, und dies muss entsprechend vermerkt sein, damit vertriebliche Aktivitäten künftig als Export aus dem EU-Binnenmarkt gelten. Solche Anpassungen sind deshalb von großer Bedeutung, weil diese Stammdaten in verschiedenen anderen Modulen zum Einsatz kommen.
2. „SAP MM“ für Materialwirtschaft: Wer Waren aus Großbritannien bezieht, muss den Status der betroffenen Lieferanten ändern – und im weiteren Prozess auch die Deklaration der Waren, die künftig nicht mehr aus der EU, sondern aus einem Drittland stammen. Je nach Absprache mit dem Lieferanten müssen sich Unternehmen gegebenenfalls selbst um die Importanmeldung kümmern und dies entsprechen in SAP MM berücksichtigen.
3. „SAP PP“ für Produktionsplanung und -steuerung: Unternehmen, die auch in Großbritannien produzieren, müssen Angaben zum Produktionsstandort im System vornehmen. Dazu kann eine Vielzahl an Nebeneinstellungen kommen, etwa neue Umsatzsteuernummern.
4. „SAP SD“ für Vertrieb und Distribution: Für Großbritannien werden ab 1. Januar 2021 neue Zollformulare gelten, die in SAP SD angelegt und mit den entsprechenden Kunden verknüpft sein müssen. Lieferzeiten und Liefertermine sind an neue langwierigere Zollprozesse anzugleichen. Darüber hinaus müssen eventuell neu kalkulierte Preise im System hinterlegt werden, damit Margen nicht durch Zölle und andere neue Gebühren reduziert werden.
5. „SAP GTS“ für globale Handelsprozesse: Auch in diesem Modul spielt die Zollabwicklung wieder eine wichtige Rolle, alle entsprechenden Informationen müssen an den neuen Status Großbritanniens angepasst werden. Auch Compliance-Vorschriften sind möglicherweise zu ändern und Stammdaten zu aktualisieren.
6. „SAP FI“ für die Finanzsteuerung: In diesem Modul fließen zum einen viele Daten zusammen, die an anderer Stelle verändert worden sind. Gleichzeitig gibt es auch hier wichtige Einstellungen zu tun: Steuernummern und Kontodaten müssen überprüft und geändert, neue Kostenfaktoren wie teurere Banküberweisungen berücksichtigt werden. Steuerschlüssel sind anzupassen und SAP FI ist gegebenenfalls für ein völlig neues Umsatzsteuersystem zu konfigurieren, wenn sich GB von der Umsatzsteuerrichtlinie der EU verabschiedet und ein eigenes System einführt.
Wechselwirkungen und die neue Realität
Die obige Beschreibung der notwendigen Anpassungen kann nur einen Teil dessen darstellen, was der Brexit für die SAP-Systeme von Unternehmen bedeutet. Entscheidend ist zunächst einmal vor allem, die notwendigen Maßnahmen überhaupt zu identifizieren und die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Modulen richtig einzuschätzen. Unternehmen sollten sich in diesem Zusammenhang vor allem auf Fragen konzentrieren, die mit Vertragspflichten und Profitabilität zu tun haben:
- Lassen sich Lieferzeiten nach GB unverändert einhalten? Wie sind sie zu korrigieren?
- Dauern Lieferungen aus GB künftig länger? In welchem Maße sind eigene Lieferzusagen davon betroffen? Müssen Lieferzeiten angepasst werden? Welchen Einfluss hat das auf die eigene Produktion (falls Komponenten aus GB in größeren Zusammenhängen verbaut werden), und wie lässt sich mit veränderten Bestellprozessen darauf reagieren?
- Welchen Einfluss haben Zölle, Steuern und andere Gebühren auf den Deckungsbeitrag einzelner Waren – und wie müssen die Verkaufspreise angepasst werden?
Denkwürdige Wochen im Dezember 2020
Mit alledem haben Unternehmen eine Menge Arbeit. Die eigentliche und größte Herausforderung kommt aber erst noch:
- Wie gehen sie mit der Zeit des Übergangs um?
- Was tun mit Prozessen, die 2020 angestoßen und erst 2021 beendet werden?
Dass Waren am 19. Dezember bestellt und in der zweiten Januarwoche ausgeliefert werden, ist schließlich ganz normal. Unternehmen sind gut beraten, dies im kommenden Dezember sein zu lassen.
Die SAP-Prozessberater des IT-Dienstleisters Syntax empfehlen Unternehmen, den Handel mit Großbritannien in den letzten zwei bis drei Dezemberwochen auf Eis zu legen: mit den Geschäftspartnern sprechen und sich darauf einigen , dass Bestellungen in einem bestimmten Zeitraum nicht möglich sind. Das ist im Interesse aller Beteiligten, und nur so lässt sich ein Prozesschaos, unter dem alle gleichermaßen zu leiden haben, vermeiden. Kurz: Unternehmen sollten nur die Bestellungen annehmen und selbst tätigen, die sie 2020 noch abwickeln können.
Engpässe lassen sich mit Application Management Services vermeiden
Die so gewonnene Zeit kann die IT-Abteilung in Zusammenarbeit mit den Fachabteilungen nutzen, um die SAP-Systeme wie beschrieben umzustellen. Dafür ist zunächst – und teils noch ohne Informationen, wie die Einigung zwischen EU und GB konkret aussieht – ein Testsystem zu entwickeln, zu validieren und freizugeben, das schließlich am 1. Januar 2021 um 00:00 Uhr in Betrieb geht.
Auch die beste Planung und das beste Vorgehen ändern allerdings nichts daran, dass viele Unternehmen weder das modulübergreifende SAP-Know-how im Haus noch die Ressourcen haben, ein solches Projekt ohne Unterstützung zu bewältigen. Eine sinnvolle Lösung für diesen Kapazitätsengpass kann die Zusammenarbeit mit einem IT-Dienstleister sein, der Application Management Services (AMS) anbietet.
AMS bedeutet in Kürze, dass Unternehmen sich zwar selbst um den Betrieb ihrer Applikationen, zum Beispiel SAP, kümmern, die Systempflege aber spezialisierten Experten überlassen. Anpassungen, wie sie rund um den Brexit notwendig sind, gehören zum Standardrepertoire dessen, was AMS-Berater täglich tun. Sie kennen die Anforderungen aus ähnlichen Projekten, bringen Prozesswissen und Synergiepotenziale mit, die dabei helfen, den Brexit-Sprung sicher und pragmatisch zu bewältigen.
* Der Autor Torsten Knapp ist Director ERP Services bei Syntax.
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