Mit viel Bammel, null Erfahrung und unzähligen Webex-Stunden…. Wie der Quantencomputer in Stuttgart entstand
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Eigentlich, ja eigentlich war alles gut vorbereitet: Am 9. November 2020 sollte es losgehen mit dem Bau des ersten „Quantum System One“ außerhalb der USA, in Stuttgart, für die Fraunhofer Gesellschaft. Und dann: Lockdown, Quarantänen, Reisen für die US-Experten unmöglich.

Dramatischer hätte die Situation kaum sein können; denn zugleich hat es in Deutschland kein Team, keinen Menschen mit Erfahrung im Aufbau von Quantencomputern gegeben. Das hat hierzulande erst gebildet, ja gefunden werden müssen, um es über 6.000 Kilometer Entfernung so zu instruieren, dass es das System physisch aufbauen und zum Laufen bringen konnte.
Dass das letztlich funktioniert hat, haben IBM und Fraunhofer am 15. Juni 2021 demonstriert, als der Computer offiziell in virtueller Anwesenheit von Kanzlerin Angela Merkel eingeweiht worden ist. Sie soll das Projekt selbst eingefädelt haben, berichtete die „Tagesschau“ und zwar am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos 2019 bei einem Gespräch mit IBM-Chefin Ginni Rometty. Im Herbst desselben Jahres erfolgte die Zusage: Der Computer kommt nach Deutschland.
Dafür haben Bund und das Land Baden-Württemberg erhebliche Mittel aufgebracht: 40 Millionen Euro. Nun können die Forscherinnen und Forscher von der Fraunhofer Gesellschaft die Anlage exklusiv nutzen, bis Ende 2023. Allerdings will die Organisation die Rechnerleistungen an andere Forschungseinrichtungen sowie Firmen in allen Größen vermieten.
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Computing-Technik der Zukunft
Erster IBM-Quantencomputer „Q System One“ in Europa
Hier wie da im Interview
Im Interview berichten Sven Peyer, Manager IBM Quantum und Cognitive Systems Development, IBM Deutschland Research & Development, der in Stuttgart den Aufbau des Quantencomputers geleitet hat, und Chris Lirakis, IBM Quantum Lead for System Deployment, der weltweit für den Aufbau der IBM-Quantencomputer verantwortlich ist, über ihre Erfahrungen in dem Projekt.
Herr Peyer, Sie haben sich doch für das Projekt beworben. Warum waren Sie von der Situation gar so überfahren?
Sven Peyer: Eigentlich habe ich mich gar nicht beworben. In Ehningen gibt es Teams, die sich mit neuer Technologie beschäftigen auch im Austausch mit Firmen wie Daimler und Forschungsorganisationen. Ich bin da quasi hineingerutscht. Irgendwann stand es einfach fest: Ich bin im Quantencomputer-Aufbauteam. Tatsächlich hatte ich aber vorher noch nie ein System live gesehen, nur Bilder und Beschreibungen. Von Anfang war geplant gewesen, dass das Team aus Washington für die heiße Phase des Aufbaus, etwa für sechs Wochen anreisen würde. Wir haben zwar schon unser Team durch zwei feste Mitarbeiter erweitern wollen, doch die Einstellung ist unter der Prämisse erfolgt, dass die Praktiker im Quantencomputerbau hier vor Ort sein würden. Es war ein Glück, dass wir uns für Personen entschieden haben, die letztlich die richtigen Qualifikationen mitgebracht haben. Natürlich wollten wir uns vorher genau vorbereiten und zwei von uns sollten sich die Quantencomputer im Betrieb anschauen. Doch die Pandemie-bedingten Reisebeschränkungen ereilten uns im April 2020 fast schon auf dem Weg zum Flughafen.
Herr Lirakis, haben Sie die Situation nicht kommen sehen?
Chris Lirakis: Doch, klar. Aber wir wollten es einfach nicht wahrhaben beziehungsweise ich wollte nicht ernsthaft darüber nachdenken, wie es wäre, das erste Mal einen Quantencomputer außerhalb der USA aufzubauen - und das ohne mein Beisein. Die Tatsache, dass der Computer anderenorts steht, war ohnehin schon eine Herausforderung: Wir mussten lernen wie sich Hunderte von Bauteilen verschiffen ließen, letztlich haben wir nur sechs Kisten gebraucht, wir brauchten Rechtsexperten, die sich etwa mit dem Zoll, mit der Rechnungsstellung auskennen, wir durften nichts vergessen. Wenn ich hier etwas benötige, Wissen oder ganz praktisch Werkzeug wie spezielle Schraubenzieher oder Putzlappen, gehe ich hier im Haus auf die Suche. Das kostet mich vielleicht ein paar Stunden an Verzögerung. Das ist über 6.000 Kilometer Entfernung nicht ganz so einfach. So haben wir ein paar Werkzeuge „extra“ sowie zusätzliches Material eingepackt – nur für den Fall….Es gibt andere Maßeinheiten wie Zentimeter und Inch, andere Sicherheitsbestimmungen.
Was haben Sie, als feststand niemand würde reisen, als erstes gemacht?
Chris Lirakis: Wir haben die Terminpläne überarbeitet. Außerdem mussten wir gegenseitiges Vertrauen aufbauen und haben in den ersten zwei von den sechs sehr intensiven Arbeitswochen soziale Events eingebaut. Wir mussten uns kennenlernen, nicht nur den jeweiligen technischen Background, sondern auch privat. Es ging darum die kulturellen, sprachlichen und technischen Unterschiede in den Kommunikationsstilen, Arbeitsstilen und die Tausende winzigen unausgesprochenen Annahmen, die in den Arbeitsstil jedes Einzelnen einfließen, zu überwinden. Zwar waren die Vorbereitungen abgeschlossen, der Quantencomputer benötigt Wasser und Strom, dennoch brauchten wir jede Menge Handwerker, wie Elektriker, Mechaniker und Klempner. An dieser Stelle darf ich ein großes Lob an die wirklich unglaublichen und sehr kreativen Schlosser aussprechen. Zum Beispiel fehlten an einer Stelle fünf Zentimeter. Sie haben zwei Tage über dem Problem gebrütet. Und dann war es gelöst. Wirklich fantastisch.
Sven Peyer: Unser IBM-Team auf der deutschen Seite bestand je nach Phase aus fünf bis sieben Leuten. Doch tatsächlich haben 40, 50 Menschen mitgearbeitet.
Haben Sie neben dem Collaboration-Tool Webex, das Sie vermutlich intensivst in Gebrauch hatten, Tools und Verfahren genutzt, die vorher für Sie unüblich waren?
Sven Peyer: Wie viele Webex-Stunden wir zusammengebracht haben, hat noch niemand ausgerechnet, aber Chris hat schon um 1:00 Uhr, 2:00 Uhr seiner Zeit im Meeting gehangen und Nachmittags um 15:00 Uhr, 16:00 und 17:00 Uhr unserer Zeit immer noch. Schließlich beträgt der Zeitunterschied sechs Stunden.
Chris Lirakis: Ich denke da sofort an die Aufnahmen. Unseren Mann für das Rendern haben wir nicht nur einmal nachts aus dem Bett geholt. Außerdem haben wir von der NASA inspirierte Praktiken angewendet, Installationsprozesse obsessiv zu proben, bevor sie tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden, und mehrere Ausfallsicherungen für jede Komponente zu haben. Außerdem hatten wir alle Bestandteile vorab bereits einmal aufgebaut. Das ermöglicht zwar keine vorkonfigurierten Bauteile, sichert aber, dass alles zueinander passt. Das gilt auch für den in Mailand hergestellten Glaskasten, der die äußere Hülle für Kyrostat und Rechner darstellt. Und schließlich haben wir alles aufgenommen. Noch sind nicht alle Aufzeichnungen und Protokolle ausgewertet, aber ich bin sicher, dass wir aus dem Erlebten lernen können, wie wir das Kommerzialisieren von Quantencomputern weiterentwickeln und weitere Experten schulen können.
Hatten Sie Zweifel, die Sie nachts wachgehalten haben, ob der Quantencomputer jemals laufen wird?
Chris Lirakis: Es gab durchaus eine realistische Chance, dass das Projekt scheitert. Jeder Tag war eine Herausforderung mit neuen Unvorhersehbarkeiten. Das war eine sehr intensive Zeit.
Sven Peyer: Eigentlich war ich relativ entspannt, nachdem ich das erste Mal mit Chris gesprochen hatte und klar war, dass wir uns alle Zeit der Welt nehmen könnten, um das System zu bauen. Aber tatsächlich hatte ich vor ungefähr einem Jahr schlaflose Nächte, als ich mir Gedanken darüber gemacht habe, dass das System nicht nur aufgebaut werden und einmal laufen muss, sondern dass es ein Team braucht, das verantwortlich sein muss für den reibungslosen Betrieb, damit Fraunhofer damit arbeiten kann.
Ist es eigentlich zu großen Verspätungen gekommen?
Chris Lirakis: Erstaunlicher Weise nicht. Am 11. Januar wurde das System angeschaltet … und es lebte.
Sven Peyer: Eigentlich wollten wir noch im Dezember soweit sein, doch für die Fraunhofer-Gesellschaft machte es nur eine Verzögerung von zwei Wochen aus.
Wie war der Moment als klar war, dass alles gut gegangen ist?
Chris Lirakis: Eigentlich kann ich die Emotionen in diesem Augenblick nicht beschreiben. Nach zehn Minuten aber fiel der ganze Druck von mir ab und die anschließenden Wochen nach der Endabnahme habe ich mich nur erholt. Tatsächlich war ich vor drei Wochen das erste Mal in Deutschland und habe den Computer live gesehen.
Was nehmen Sie aus dem Erlebten mit?
Sven Peyer: Wir fühlen uns nun wie ein Teil eines größeren Teams.
Chris Lirakis: Das war „IBM at it´s best“. Bei weiteren Projekten werde ich von Anfang an stark auf Partner aus dem jeweiligen Land setzen. Und dass die Übertragung des gelernten funktioniert, hat das deutsche Team schon bewiesen. Sie waren einem Team behilflich, dass einen identischen Quantencomputer in Japan aufbaut.
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