Neue digitale Vertriebsplattform für den Personenverkehr Die Deutsche Bahn fährt ab auf „Vendo“

Von Elke Witmer-Goßner

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Die Sitzplatzreservierung behalten, wenn der Zug ein anderer ist als der eigentlich vor Reisebeginn gebuchte? Ist heute schon möglich – nur der DB-Kunde erfährt es schlichtweg nicht. Das soll auf jeden Fall anders werden.

Mit Vendo schiebt die Deutsche Bahn veraltete IT-Architekturen, Silodenken und getrennte Verkaufskanäle aufs Abstellgleis.
Mit Vendo schiebt die Deutsche Bahn veraltete IT-Architekturen, Silodenken und getrennte Verkaufskanäle aufs Abstellgleis.
(Bild: DB Vertrieb GmbH)

Wie genau, das ist Aufgabe von Ralf Gernhold, CTO der DB Vertrieb GmbH. Er will die Zukunft der Mobilität digitalisiert und nachhaltiger gestalten. Dieses Ziel verfolgt er seit Oktober 2018 als Programmleiter des millionenschweren Digitalisierungsprojekts Vendo des Tochterunternehmens der Deutschen Bahn. Mit der Einführung des neuen, multimodalen Vertriebssystems will der ehemalige CIO der Lufthansa-Tochter Miles & More vor allem die User Experience und die Anpassungsfähigkeit für zukünftige Anforderungen deutlich verbessern.

„Die IT-Systeme der Deutschen Bahn sind teilweise sehr alt“, erzählt CTO Gernhold im Gespräch mit CloudComputing-Insider. „Gewachsen“, wie es so schön heißt. Sie seien geprägt von Zeiten, als Fahrscheine noch anders gekauft wurden. Die Buchung im Reisezentrum steht neben den „alten“ Automaten – jeweils eigene für den Nahverkehr der DB Regio als Dienstleister der Verbünde und den eigenwirtschaftlichen Fernverkehr – sowie den „modernen“ Online- und Mobilplattformen (bahn.de und DB Navigator). Dass hier Brüche zwischen den verschiedenen Systemen entstanden sind, ist kein Wunder. Und auch eine Erklärung dafür, warum Umreservierungen während der Reise zwar im Hintergrund stattfinden können, aber beim Fahrgast „im Frontend“ nicht ankommen.

Die „Next“-Generation auf Basis neuer Systemarchitektur

Das neue Vertriebssystem stellt hohe Ansprüche an sich selbst: starke Leistungsfähigkeit, komplett skalierbar, ohne monolithische Strukturen – der Abschied vom eigenen Rechenzentrum inklusive. Hundert Prozent des Systems sind eigenentwickelt. Das sei wichtig, weiß Gernhold, um das Kernsystem im Eigenbesitz zu haben. Nur laufen darf es woanders. Zurzeit hostet noch AWS, aber in Zukunft will DB Vertrieb auch Kunde anderer Cloud-Provider werden.

Cloud, Microservices und Kubernetes sind die Bausteine der Vendo-Architektur. Man wolle, so Gernhold, auf jeden Fall so weit wie möglich auf Open-Source-Basis unterwegs sein. Ziel sei, die IT-Systeme für eine verbesserte User Experience neu aufzusetzen, und die Time-to-Market zu reduzieren. Gernhold hat insgesamt über 300 IT-Experten und Entwickler im Einsatz, die agil in unter anderem 22 interdisziplinären Entwicklerteams arbeiten.

Die Microservice-Architektur kombiniert mit Cloud- und Big-Data-Lösungen soll vor allem eines bringen: neue Produkte und Änderungen im Angebot schneller an die Fahrgäste zu bekommen sowie auch kurzfristig auf Markterfordernisse reagieren zu können – Stichwort Neun-Euro-Ticket. Auf technischer Seite sorgt die modernisierte IT-Landschaft für einen Umbau der monolithischen Softwarestruktur und geringe technische Abhängigkeiten. Als cloud-basierte Lösung fallen geringere Investitionskosten für Server-Hardware und sonstige Infrastruktur an. Zudem sind die IT-Ressourcen flexibel skalierbar. Big Data ermöglicht einheitliches Reporting, optimales Datenmanagement und State-of-the-Art Customer Analytics.

Abfahrt Richtung Zukunft

Bahnreisende sollen somit künftig in next-bahn.de und Next DB Navigator mit wenigen Klicks zu ihrer Fahrkarte kommen, Favoriten speichern und buchen können. Alle Kontaktpunkte sollen optimale ineinandergreifen, der Service über alle Vertriebskanäle verfügbar sein – egal, wo das Ticket gekauft wird. Die nahtlose Integration neuer Touchpoints soll ebenfalls möglich sein. Kürzlich wurden bereits neue Funktionalitäten wie Reisebegleitung, Echtzeitdaten oder Reiseauskunft eingeführt. Und, um beim Beispiel der Sitzplatzreservierung zu bleiben: Künftig sollen Bahnreisende bei Zugausfällen und damit bedingtem Wechsel oder sonstigen Störungen im Ablauf ihre Platzreservierung nicht verlieren, sondern direkt erfahren können, wo sie im neuen Zug sitzen werden.

Doch auch für künftige Herausforderungen will die Bahn gewappnet sein. Dazu gehört beispielsweise die engere Verzahnung des internationalen Bahnreiseverkehrs, wie es bei Flugreisen schon lange gang und gäbe ist. Gernhold setzt große Hoffnungen auf das Open Sales and Distribution Model (OSDM), einer Spezifikation für den Bahnsektor, die den interoperablen Fahrkartenverkauf für Züge und andere Verkehrsträger ermöglichen soll. Diese ist zwar noch in Arbeit, Vendo unterstützt OSDM aber bereits teilweise.

Noch läuft Vendo parallel zum alten System. Allerdings hatten 12.000 ausgewählte Bahnkunden die Möglichkeit, die neuen Versionen des Frontends zu testen und Feedback zu geben. Es gab viel Lob, vor allem aber reichlich konstruktive Kritik, die dem Entwicklungsteam hilft, die Produkte noch besser den Kundenwünschen anzupassen. Ab Oktober soll die Open-Beta-Version live gehen, gefolgt von der größten Herausforderung im nächsten Jahr: die komplette Migration auf das neue System.

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Ralf Gernhold hat mit Vendo schon einiges geschafft: Bei DB Vertrieb gelang ihm bisher der Neuaufsatz und die Steuerung des IT-Programms, die erfolgreiche Neuplanung und Reorganisation der Linie, die Durchsetzung der Planung im Konzernvorstand, eine Verschlankung der Strukturen bei Steigerung der Produktivität sowie die Optimierung der digitalen Roadmap. Trotzdem ist er so kurz vor der Vollendung des Projekts ein wenig aufgeregt: „Unser ganzes Team freut sich schon auf den Start der Open-Beta im Herbst. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie unsere Kundinnen und Kunden reagieren werden.“

Zur Person

Ralf Gernhold
(Bildquelle: DB Vertrieb GmbH)

Ralf Gernhold ist Chief Technology Officer der Deutsche Bahn Vertrieb GmbH und verantwortet dort unter anderem auch das Digitalisierungsprogramm Vendo. Bereits seit den 90er Jahren beschäftigt er sich mit frühen Innovationen: vom Aufbau eines satellitengestützten Autobahnmautsystems über die Implementierung der digitalen Omnichannel-Marketingplattform für die 30 Millionen Mitglieder von Miles & More bis hin zur Entwicklung eines mobilen Shopping-Tools mit modernster Bilderkennung und maschinellen Lernfunktionen.

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